Der letzte glückliche Bischof

„Nun haben sie ihn doch nicht gekreuzigt“, schreibt Georg Bungter zu meinem Blog über Kardinal Woelki, „aber ob er jetzt glücklich ist?“

 

Ich habe das Glück, darauf eine klare Antwort geben zu können: Nein, glücklich ist er nicht und wird es bestimmt nicht mehr. Das liegt  nicht an ihm, auch nicht an den offenbar unlösbaren Sexualproblemen in seinem Erzbistum (alle Sexualprobleme sind unlösbar). Es liegt daran, dass es im Jahr 2021 einen glücklichen Bischof nicht mehr gibt und gar nicht mehr geben kann.

 

Gnade der frühen Geburt:  Siebzig Jahre ist es her, seit ich dem letzten glücklichen Bischof der katholischen Kirche noch persönlich begegnen durfte. Das war Franziskus von Streng, Bischof von Basel und Lugano mit Sitz in Solothurn. Da ich ein Bub von dreizehn Jahren war und meinen Spass daran fand, in seinen Garten zu klettern, bin ich ihm oft begegnet. Gescholten hat er mich nie. Franziskus von Streng strahlte all das aus, was man in den fünfziger Jahren von einem Bischof erwarten durfte: Würde, Väterlichkeit, Güte. Doch da war noch etwas anderes. Etwas, was sich meinem kindlichen Gemüt unauslöschlich einprägen sollte. Wie er zwischen Buchshecken und Rosenspalieren über leise knirschenden Kies einhergeschritten kam, strahlte der ganze Bischof von Basel vor Glück. Woran das lag?

 

Es lag an den Postkarten. Wohl waren Postkarten zu Beginn der fünfziger Jahre im Leben der meisten Menschen wichtiger als heute. Im Tageslauf des Bischofs von Basel aber waren sie von überwältigender Bedeutung.

 

Wenn Franziskus von Streng morgens die Messe gelesen und ein paar Geschäfte mit seinem Sekretär besprochen hatte, zog er sich allein in sein Arbeitszimmer zurück. Jede Störung war dann verboten. Vor ihm, auf dem leeren Schreibtisch, lag nichts als ein kleiner Stapel vorfrankierter Postkarten. Bedächtig ergriff der Bischof die oberste Postkarte. Überlegte lange. Überlegte erneut. Dann schrieb er einen einzigen Satz. Zum Beispiel: „Ich versetze Sie von Kleinhüningen nach Welschenrohr. + Franziskus von Streng.“ Oder: „Ich versetze Sie von Welschenrohr nach Kleinhüningen. + Franziskus von Streng“. Und so noch drei, vier andere Versetzungen. Alle per Postkarte. Dann war es auch schon elf. Das Brevier andächtig in der Hand, wandelte Bischof von Streng hinab in seinen Rosengarten. Er strahlte vor Glück.

 

Gewiss ist es im Bistum Basel heute nicht ganz so schlimm wie im Vatikan, wo sich der Beamtenapparat seit dem Konzil verzehnfacht hat. Aber es ist fast so schlimm. „Dialogstrukturen“ nennt man das im Solothurner Klerus. Keine Beförderung, keine Degradierung, der nicht ein endlos tümpelnder Dialog in den unentwirrbar verkletteten „Dialogstrukturen“ des Bistums vorausginge. Bis zur völligen Blockade.

 

„Dialogstrukturen“ im Erzbistum Köln zu verhindern, war eines der Hauptanliegen von Woelkis (bekanntermassen bösem) Vorgänger Joachim Meisner. Das ist ihm scheinbar gelungen. Dennoch war Joachim Meisner ein zutiefst unglücklicher Mensch. Denn es gibt etwas, was noch schlimmer ist als schweizerische Dialogstrukturen. Das sind deutsche Konferenzen. Nicht verhindern konnte selbst ein Meisner die schier endlose Multiplikation von Konferenzen, in denen sich die zahlreichen „Dikasterien“ der Kölner Kurie gegenseitig schlimmer noch blockieren als Dialogstrukturen.

Einmal, als Papst Johannes Paul II in finanziellen Nöten war, habe ich Kardinal Meisner gefragt, warum er dem Papst nicht unter die Arme greife. Seine Antwort: „Ich kann nicht. Sie machen sich keinen Begriff, wie schwerfällig mein riesiger Haushalt ist. Jeder Versuch, da etwas zu verändern, muss jahrelang durch unzählige Konferenzen.“ Und dann? „Dann ist nichts mehr von dem übrig, was ich wollte.“

 

Zu den unveräusserlichen Rechten jedes Menschen gehört jedoch seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung das Recht auf Glück. Glücklich wird ein Mensch, wenn er etwas bewirkt. Glücklich wird auch ein Bischof, wenn er etwas bewegt. Franziskus von Streng war noch ein Bischof, der etwas bewirken konnte. Grosses hat er bewirkt mit geringstem Aufwand. Per Postkarte hat er sein Bistum souverän regiert.

 

So ist er mir, dem Dreizehnjährigen, in seinem Garten in Solothurn zwischen Buchsbäumen und Rosen unvergesslich begegnet. O Gnade aller Gnaden, Gnade der frühen Geburt! Welches Glück, dass ich ihn noch mit eigenen Augen sehen durfte: den letzten glücklichen Bischof der katholischen Kirche!